Zeitsprünge und Wurmlöcher in Fritzlar, 27./28. August 2016
Gelegentlich gibt es Momente, da sieht man sich in einer anderen Person – in einer Situation die man schon erlebt hat, die einem irgendwie noch nachhängt, aber bis eben unter der Oberfläche dahin waberte, eigentlich schon vergessen war, wie man glaubte … Mir ging es an diesem Wochenende in Fritzlar so …
Es gab einige externe oder neue Gäste, die mich daran erinnerten, wie es mir einst ging – auf meinem ersten Seminar mit McCarthy sensei. (Das war 1998 in Schweden.) Eigentlich wusste ich alles, was es über karate zu wissen gibt, kannte genug zumeist unfähige und nur in Ausnahmefällen irgendwie zumindest in Teilen überzeugende Lehrer. Über äußere und innere Stärke, Prinzipien, die unantastbar, weil ewig, wahr und offensichtlich waren, Geschichten, ihre kommunikative Absicht und ihren Wahrheitsgehalt, die notwendige und sinnvolle Akzentuierung oder Gewichtung von Übungen und ihren Ausführungsprinzipien etc. wusste ich doch eigentlich jede Menge und ganz ohne Zweifel, konnte ich mir ein Urteil erlauben.
Nun ja, inzwischen weiß ich, dass ich irrte, was mich sicher nicht daran hindert, den Fehler in analoger Weise erneut zu begehen – die eigene Arroganz kennt ja bekanntlich keine Grenzen. Jedenfalls erinnere ich mich auch an das heilsame, mich bescheidende Gefühl der Überforderung, der offensichtlichen Ahnungslosigkeit und Unfähigkeit, das Gesehene, Gehörte, Gefühlte in mein bis dahin so kohärentes Karateweltbild (naja, es war wohl eher ein -dorfbild) zu integrieren. Die überwältigende Einsicht, dass hier von Grund auf alles irgendwie anders ist, als ich bisher dachte, dass Dinge, die ich für unantastbar und alternativlos hielt, aufgingen in einem ganzen Haufen von Möglichkeiten, deren Gemeinsamkeiten sich auf einer Verständnisebene (erst später) ergaben, die fundamentaler als jedes meiner fundamentalsten Karateaxiome war …
Das alles ist eine Weile her und, wie gesagt, ich hatte es fast vergessen – ebenso wie Senseis Satz, der sinngemäß lautet “What is obvious to me, remains a mystery to most other people I met in karate.” Ich hab diesen Satz immer für furchtbar arrogant gehalten, für Türen versperrend, ein unauthentisches, weil explizit von “oben” hergestelltes Hierarchiegefälle aufbauend. (Anmerkung: Das gilt trotz oder gerade wegen der faktischen und offensichtlichen Korrektheit dieser Aussage, wenn sie aus Senseis Mund kommt.) Inzwischen dämmert mir, dass es vielleicht die durch den Einfluss unausweichlicher Öffentlichkeit, z.B. die Anwesenheit eines Publikums, verkorkste Erinnerung an den eigenen Anfang sein könnte, die hier beschworen wird. Jedenfalls gibt es Momente, in denen ich mich ertappe, Mühe zu haben, mich in die Perspektive meines Gegenübers zu versetzen, weil Sie gefühlte Äonen hinter mir liegt und nur noch einer dunklen Erinnerung gleicht.
In Fritzlar scheint es Wurmlöcher zu geben, denn die Zeitreisen dort sind doch immer irgendwie schräg. Das gilt nicht nur für mich und meine “Reisen”, sondern auch für einige Anwesende, die mal hinter das zurück fallen, was sie schon einmal konnten, plötzlich überraschende Fortschritte machen und doch den Transfer von einer Übung zur anderen nicht dauerhaft hinbekommen.
Achja, damals auf dem ersten Lehrgang war es nur sensei, der zum Umdenken zwang, auf den heutigen Seminaren gibt es jede Menge Leute, die den Lehrenden (z.B. mich) einfach ersetzen könnten, ohne dass die Qualität des Seminars sinken würde (vermutlich wäre sogar das Gegenteil der Fall). Schön, dass Leute vorbeischauen und sich scheinbar wohlfühlen können. Und auch schön, dass alle in und mit Ihrer Eigenzeit dahindriften … und mein Selbstverständnis gelegentlich torpedieren. Danke!
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